Krebserkrankungen haben sich im letzten Jahrhundert zu einer Volkskrankheit entwickelt. Global betrachtet, steigen sowohl die Krebshäufigkeit wie auch – etwas geringer – die Sterberaten für die meisten Krebsarten. Aus dem „World Cancer Report“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kann entnommen werden, dass die Anzahl der jährlichen Neuerkrankungen an Krebs auf der Erde von jetzt etwa 12 Millionen auf ungefähr 15 Millionen im Jahre 2020 ansteigen wird. Man geht davon aus, dass in den Industrieländern heute jeder 2. Mann und jede 3. Frau an Krebs erkrankt. Wenn diese Entwicklung so weiter geht, dann ist anzunehmen, dass in absehbarer Zeit jeder Erdbewohner krebskrank wird. Die krebsbezogene Mortalität für die Weltbevölkerung wurde im Jahr 2005 von der WHO auf 7.6 Millionen geschätzt. Für die USA wären dies etwa 700.000, für Deutschland knapp 250.000 und für die Schweiz etwa 20.000 Krebstote im letzten Jahr. Es wird erwartet, dass die Mortalitätsraten für Krebs weiter ansteigen.
Diese alarmierenden Zahlen sind keineswegs auf einer ungenügenden Bereitschaft begründet, Geld für Krebsforschung und Krebsbekämpfung auszugeben. So hat sich seit 1971 bis heute z.B. das Jahresbudget des Nationalen Krebsinstitutes der USA um den Faktor 30 erhöht, und zwar von 150 Millionen auf 4.6 Milliarden US-Dollar. Ähnliche finanzielle Anstrengungen werden auch von der europäischen Gemeinschaft und anderen Ländern unternommen. Gemessen an diesen enormen Ausgaben für die Krebsbekämpfung sind die erzielten Erfolge eher sehr klein geblieben.
Aus dieser ernüchternden Betrachtung lässt sich leicht die Bedeutung für den einzelnen Krebspatienten aber auch für die Gesellschaft als Ganzes ableiten. Trotz verbesserter diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten hat unser modernes Medizinsystem – die komplementäre Medizin eingeschlossen – in Bezug auf die Krebskrankheit bisher versagt. Insbesondere wurde der Einfluss von karzinogenen Stoffen in unserer Umwelt unterschätzt und präventive Maßnahmen nicht ausreichend unterstützt und ausgeschöpft, was sicherlich mit für den steten Anstieg der Krebshäufigkeit verantwortlich zu machen ist. Weiterhin sind Frühdiagnostik und Therapie nicht genügend verbessert worden und die Nachsorge im Sinne einer Sekundärprophylaxe wurde oft gänzlich vernachlässigt.
Unsere Hoffnung, mit den ständig verbesserten tumordestruktiven Behandlungsmethoden, wie Chirurgie, Chemo- und Strahlentherapie das Krebsproblem zu besiegen, hat sich für die Haupttumorentitäten – Lungen-, Brust-, Darm- und Prostatakrebs – in den fortgeschrittenen Stadien nicht erfüllt. Diese Behandlungsmethoden, auch im Verbund mit den immer häufiger angewendeten komplementär-onkologischen Maßnahmen, konnten über die letzten Jahrzehnte keinen entscheidenden Rückgang der Krebsmortalität herbeiführen. In den USA stieg die alterskorrigierte Krebsmortalität von 1970 bis 1995 sogar um etwa 6% an und hat erst in den letzten Jahren ein Plateau erreicht. Nur für Männer ergab sich ein geringer Rückgang der Krebsmortalität um etwa 1%, was wahrscheinlich durch eine Abnahme des Rauchens bedingt ist. In Deutschland und in der Schweiz sind die Verhältnisse ähnlich. Die Zahl der Neuerkrankungen pro Jahr steigt in beiden Ländern weiterhin an, während die Zahl der Krebstodesfälle in Deutschland gering gesunken und in der Schweiz leicht angestiegen ist. Die von der Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland und vom Robert Koch-Institut veröffentlichten Zahlen spiegeln die ernüchternde Wahrheit in der Krebsmedizin wider, welche auch durch die fast täglich in den Medien gepriesenen Erfolge und Durchbrüche in der Krebsbekämpfung nicht abgeschwächt wird.
Der Gesamteffekt unserer heutigen Krebsmedizin – konventionell und komplementär – auf die Krebsmortalität kann daher als enttäuschend gering eingeschätzt werden. Offensichtlich benötigt die Krebsmedizin neue Impulse.
Ein Umdenken in Bezug auf die Bedeutung präventiver Maßnahmen für die Senkung der Krebshäufigkeit und Sterblichkeit steht dabei an erster Stelle. Insbesondere sollte der Einfluss karzinogener Stoffe in unserer Umwelt neu eingeschätzt und die Konzentration solcher Stoffe durch geeignete Maßnahmen reduziert werden. Wir müssen uns gesünder ernähren und ernährungsphysiologisches Grundwissen auch im täglichen Alltag umsetzen, angefangen von der Babynahrung, über die Schulspeisung, Krankenhauskost bis hin zur Ernährung im Altersheim. Gesündere Lebensgewohnheiten müssen anerzogen werden, insbesondere müssen wir eine weitere Reduktion des Alkoholkonsums und des Rauchens erreichen. Mehr Forschungsgelder müssen für die allgemeine Krebsprophylaxe ausgegeben werden, auch wenn damit kein Geschäft und auch keine akademische Karriere gemacht werden kann. Weiterhin müssen verbesserte Frühdiagnostik und effektivere Therapiemöglichkeiten einer breiteren Masse von Patienten zugänglich gemacht und die Krebsnachsorge im Sinne einer gezielten Sekundärprophylaxe unter Einbeziehung auch komplementär-medizinischer Maßnahmen neu orientiert werden.
In der statistischen Übersicht können wir in Europa (Summe der 16 europäischen Krebsregister) mit folgenden Heilungsraten rechnen (Prävention von Krebs – Aktueller Stand und wirksame Strategien – Ein UICC-Handbuch für Europa, W. Zuckschwerdt Verlag GmbH, 2006)
- 90% bei Tumoren des Hodens und einem Großteil der kindlichen Tumore
- 75% bei Karzinomen der Schilddrüse, Brust, Endometrium, Zervix und Blase, beim malignen Melanom und dem Hodgkin-Lymphom,
- 50% bei Karzinomen der Prostata, Kolon/Rektum, Niere und den Non-Hodgkin-Lymphomen
- 25% bei Kopf-Hals-Tumoren, Ovarialkarzinom und akuten Leukämien
- <5% bei Hirntumoren, Karzinomen von Magen, Lunge, Speiseröhre, Leber und Pankreas
Zusammengenommen können etwa 50% aller Krebspatienten heute geheilt werden; jeder vierte durch chirurgische Eingriffe, jeder achte durch Strahlentherapie, und nur jeder zwanzigste durch Chemotherapie. Dabei ist „Heilung“ definiert als das Überleben von 5 Jahren ohne Rückfall. Die gegenwärtig zur Verfügung stehenden Chemotherapeutika können zwar bei einigen seltenen Tumorarten wie Lymphomen, Leukämien und Hodentumoren signifikante Therapieerfolge mit Heilungsraten zwischen 60-80% erreichen, haben sich jedoch insgesamt bei den häufigen Krebsarten, wie z.B. den Karzinomen von Dickdarm, Lunge, Brust, Blase, Niere, Magen, Gallengänge, Pankreas und den Sarkomen insgesamt nur bedingt bewährt. Patienten im fortgeschrittenen Stadium der Krebserkrankung (etwa die Hälfte aller Krebspatienten) haben noch weniger Nutzen durch eine Chemotherapie zu erwarten, es sei denn, die palliative oder symptombezogene Chemotherapie trägt zur vorübergehenden Verbesserung der Lebensqualität, Kontrolle von tumorbedingten Schmerzen oder anderen Tumorsymptomen bei. Es wurde geschätzt, dass weniger als 2% solcher Patienten noch mit Heilung rechnen können und nur etwa 10-20% eine Lebensverlängerung erreichen, die jedoch oft nur in Wochen oder wenigen Monaten gemessen wird.
Unter diesen Vorgaben ist es unerklärlich, dass Krebspatienten auch im weit fortgeschrittenen Stadium mit kurzer Lebenserwartung noch einer zytostatischen Chemotherapie unterzogen werden. Dies geschieht wohl oft aus Ohnmacht und Verzweiflung von Therapeut und Patient gleichermaßen, in einer solchen Situation noch etwas tun zu wollen. Leider aber auch aus Unwissenheit oder Falschinformation bezüglich der Wirksamkeitsgrenzen einer zytostatischen Zweit-, Dritt- oder gar Viertlinien-Chemotherapie für eine mögliche Lebensverlängerung. Genau so wenig begründet in Bezug auf eine Lebensverlängerung in dieser Situation sind allerdings auch die meisten komplementär-onkologischen Behandlungen, denen sich gerade Patienten im Endstadium der Erkrankung immer mehr zuwenden.
Für die meisten Patienten bringen die tumorzerstörenden Behandlungen mit Chemo- und Strahlentherapie signifikante Nebenwirkungen, sowohl unmittelbar und oft reversibel (z.B. Haarausfall, Immunsuppression, Schleimhautentzündung mit Geschwürbildung), wie auch langfristig (z.B. chronische Schwäche = Fatigue-Syndrom, anhaltende Neuro- oder Kardiotoxizität, wie auch Zweittumoren).
Aus der Sicht des Krebskranken wird demnach die Suche nach alternativen oder komplementären Behandlungsmaßnahmen leicht verständlich. Bis zu 80% aller Krebspatienten wenden heute neben konventioneller Therapie auch komplementäre Behandlungsmethoden an. Für diese Orientierung zu Behandlungsmaßnahmen, die jenseits von etablierten, schulmedizinischen Standards praktiziert werden, existieren eine ganze Reihe verschiedener Beweggründe. Der wichtigste Grund scheint die unverändert bestehende existentielle Bedrohung zu sein – noch immer sterben 50% der Krebspatienten an ihrer Erkrankung und das hat die moderne Schulmedizin über Jahrzehnte nicht wesentlich verbessern können. Fast jede Familie hat einen Angehörigen mit Krebs oder kennt das Schicksal eines Krebspatienten aus dem Freundeskreis. Das Wort Chemotherapie jagt Schrecken ein und Betroffene kennen das damit verbundene Leiden. Trotzt der Fortschritte in der unterstützenden Therapie zur Verminderung von Nebenwirkungen der Chemotherapie wird diese oft schwerwiegender eingeschätzt als die Krankheit selbst. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Patienten und deren Angehörige ganz gezielt nach zusätzlichen Behandlungsmaßnahmen suchen mit der Hoffnung die Überlebenschance zu erhöhen, belastende Nebenwirkungen während oder nach der durchgemachten Standardtherapie zu vermindern, einer therapieinduzierten bzw. auch krankheitsassoziierten Immunsuppression entgegen zu wirken, und um Depressions- und Angstzustände abbauen zu können. Viele Krebspatienten fühlen sich auch alleingelassen und anonym in der industrialisierten Medizin unserer akademischen Krankenhäuser, Polikliniken und Praxen, in denen Ärzte und Pflegepersonal gehetzt durch Zeitvorgaben den erforderlichen persönlichen und notwendigerweise auch zeitraubenden Kontakt vermissen lassen. Die Patienten bevorzugen daher die häufig private Atmosphäre und persönliche Zuwendung, die sie in einer komplementär-medizinischen Einrichtung erfahren – auch wenn dies zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung führt.
Bei dieser Suche, etwas Zusätzliches zur Krankheitsbekämpfung und zur Verbesserung der Lebensqualität zu finden, werden die Begriffe alternativ, komplementär und auch integrativ oft austauschbar und undifferenziert im gleichen Kontext sowohl vom Patienten wie auch vom Therapeuten verwendet. Eine kurze Begriffsbestimmung sei deshalb hier angeführt:
- Alternative Behandlungsmaßnahmen oder Verfahren sind solche, die anstelle der schulmedizinischen Standards zur Anwendung kommen. Alternative Behandlungsmethoden sollten nur dann zur Anwendung kommen, wenn keine sinnvolle konventionelle Therapiemaßnahme zur Verfügung steht. Hier ist jedoch Vorsicht geboten, da es viele Beispiele gibt, wie durch alternative Behandlungen und den Verzicht auf Standardtherapie echte Heilungschancen verpasst werden.
- Komplementäre Therapien sind Behandlungsmaßnahmen aus der Naturheilkunde, Immunologie, Molekularbiologie, Biochemie, Physik, und Psychologie, die ergänzend zur konventionellen Therapie angewendet werden. Sie stehen jenseits der etablierten, schulmedizinischen Standards und haben nicht denselben Grad von klinischer Sicherung wie die Methoden der so genannten „evidence based medicine“. Sie weisen jedoch oft aufgrund von empirischen Beobachtungen und wissenschaftlichen Grundlagenuntersuchungen die Voraussetzungen für eine klinische Prüfung auf.
- Integrative Behandlung ist die Anwendung von konventioneller Therapie im Verbund mit komplementären Behandlungsmaßnahmen, wobei eine konzeptionelle Verbindung der genannten Heilansätze im Interesse des Patienten angestrebt wird.
Die Onkologie hat sich in den letzten 25 Jahren zu einer ausgesprochen fachübergreifenden medizinischen Disziplin entwickelt, deren Zukunft in ganz besonderem Maße von der Bereitschaft zum interdisziplinären und integrativen Handeln abhängig ist. Bislang galten komplementär erweiterte Therapiekonzepte unter den konventionellen Onkologen als „unbewiesen und unwirksam“ und wurden daher entweder strikt abgelehnt oder allenfalls geduldet. Nur sehr selten waren solche Onkologen bereit, komplementäre Behandlungsmaßnahmen sachlich und unvoreingenommen zu überprüfen oder wenigstens gemeinsam mit den Hilfe suchenden Patienten zu tragen. Dadurch waren und sind weiterhin viele Patienten unnötig einer Konfliktsituation ausgesetzt, welche oftmals mit Verschweigen komplementärer Behandlungsmaßnahmen gegenüber dem konventionellen Onkologen endet. Diese Situation erscheint paradox, da die so genannte wissenschaftlich begründete Schulmedizin in der palliativen Situation trotz einiger Erfolge letztendlich mit einer Tumor-zerstörenden Chemo- oder Strahlentherapie den schicksalhaften Verlauf der Krebskrankheit nicht verändern kann. Die Nebenwirkungen dieser Therapiemethoden richten dabei oft mehr Schaden an, als sie nutzen. In einigen Fällen können sie sogar die Patienten-Überlebenszeit extrem verkürzen, z.B. wenn es durch extreme Toxizität zum therapie-bedingten Todesfall kommt. Auf der anderen Seite sind die Vertreter der komplementär-onkologischen Praxis oft voreingenommen und lehnen unkritisch gegenüber ihrer eigenen Methoden konventionelle Behandlungsmaßnahmen kategorisch ab. Solche Einstellungen sind ebenso unberechtigt wie gefährlich und bedürfen einer dringenden Korrektur.
Onkologen und komplementär-onkologisch tätige Ärzte müssen aufwachen, ihr eigenes Handeln kritisch überdenken und die Unbewiesenheit Tumor-zerstörender sowie komplementär-medizinischer Behandlungsmaßnahmen in Bezug auf Verlängerung der Patienten-Überlebenszeit in bestimmten Behandlungssituationen anerkennen und Konsequenzen daraus ziehen. Unsere Gesundheitspolitik, unsere Hochschulausbildung und auch unser ärztliches Handeln müssen frei werden vom profit-orientierten Druck persönlicher oder auch industrieller Interessen. Nur so lassen sich unnötige und kostspielige Chemotherapien, aber auch unbewiesene komplementär-onkologische Maßnahmen vermeiden. Unsere Therapiekonzepte müssen der Kenntnis Rechnung tragen, dass die Tumorkrankheit in der überwiegenden Zahl der Fälle als systemische Krankheit anzusehen ist und bei den meisten Patienten zu einem bestimmten Zeitpunkt während des Krankheitsverlaufs eine systemische Tumortherapie notwendig macht. Dabei ist die systemische Krebsbehandlung inzwischen äußerst kompliziert geworden, da immer mehr zytotoxische und auch selektiv wirkende zytostatische Substanzen, verschiedenste immuntherapeutische Ansätze, Angiogenese – Hemmer, sowie auch eine Vielzahl komplementärer und alternativer Behandlungswege zur Verfügung stehen und auch dem enormen Kostenproblem in immer stärkerem Maße Rechnung zu tragen ist. Krebs ist zudem eine Erkrankung, welche Körper und Seele gleichermaßen berührt und zweifelsohne eine ganzheitliche Betreuung und integrative Behandlungsstrategie erfordert.